Medizinische Übergriffe ein Tabu-Bruch
Medizinische Übergriffe, ein Tabu-Bruch. In ihrer Blogparade „TABU-Talk: Über dieses Tabu möchte ich endlich offen reden!“ greift Generose Sehr dieses elementare Thema auf und ich folge dem Ruf.
Wusstest du, dass eine Blutentnahme eine Körperverletzung darstellt, sofern du nicht zustimmst, also deinen Arm nicht freiwillig ausstreckst. Dies stellt die nonverbale Zustimmung für diese invasive Maßnahme dar.
Götter in weiß?
Ich kann die Zahl der medizinischen Übergriffe kaum zählen, die allein ich selbst erlebt habe, geschweige denn, die ich bei Patient:innen in den über 20 Jahren als Dienstleisterin im Gesundheitswesen, Krankenschwester und Heilpraktikerin für Psychotherapie mitbekommen habe. Das ist mein Warum. Für dich und mich und mehr mündige Patient:innen. Du hast eine Stimme, gebrauche sie und sage nein, wenn sich etwas völlig falsch anfühlt. Du darfst eine zweite Meinung einholen, du darfst hinterfragen, warum du gerade dieses Medikament erhalten sollst oder diesen Eingriff und du darfst Empathie erwarten! Augenkontakt, mit deinem Namen angesprochen zu werden, eine Begleitperson an deiner Seite zu haben und vieles mehr. Du darfst Forderungen stellen, die dir die möglicherweise notwendige medizinische Situation erleichtern und musst keineswegs mucksmäuschenstill und reglos auf einer Untersuchungsliege verweilen und alle scheinbar „normalen“ Handgriffe über dich ergehen lassen.
Bis heute werden Mediziner noch als „Götter in weiß“ angesehen und ihre Aussagen und Anweisungen werden nicht infrage gestellt, weder von Patient:innen noch von medizinischem Personal. Heute sind die Mediziner nicht mehr die direkten Vorgesetzten der Pflege und das ist gut so. Heute wissen wir, dass es sinnvoll für den Genesungs- und Heilungsverlauf ist, den:die Patient:in zum:r Expert:in für die eigene Erkrankung zu machen. In der Psychiatrie nennen wir das Psychoedukation. Heute beziehen wir Angehörige und nahestehende Personen mit in die Prozesse ein. Heute haben wir freie Arzt- und Krankenhauswahl (außer bei Unterbringung nach §12 Hamburger-Psych-KG und dem §1906 BGB die Unterbringungsgesetze bei Betreuten betreffend, diese sind sektorbezogen, nach Auffinde- oder Wohnort). Und heute hat jeder das Recht, Behandlungen abzulehnen, selbst wenn sie als medizinisch notwendig erachtet werden.
Kurzum, die „Götter in weiß“ gibt es nicht und gab es nie, sie sind Menschen, die zwar lange studiert und intensiv gelernt haben und die trotzdem Fehlermachen, das ist menschlich, ich unterstelle jedem, dass er/sie nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Die äußeren Umstände außer Acht gelassen, die schon lange auch Mediziner und nicht nur Pflegepersonal betreffen.
Niemand muss Ja und Amen sagen oder stillhalten.
Doch das ist unbequem, für die ohnehin schon zeitlich eng getakteten, kaum zu bewältigenden Aufgaben und Patientenandrang, bei viel zu wenig Personal und zum Teil auch nicht optimalen Räumlichkeiten oder fehlendem Equipment für Untersuchungen und Eingriffe.
Ein Ausweg?
Ich habe keine neue Idee beizusteuern. Aus meiner Erfahrung sowohl als Krankenschwester, Therapeutin und Patientin kann ich nur betonen, was seit Jahrzehnten inzwischen gefordert wird. Ein dem Patient- und Mitarbeiterwohl des medizinischen Personals angemessene Besetzung in den Schichten, Praxis, Ambulanzen, Heimen, Pflegedienst und Co. Die verhältnismäßige Anpassung bzw. Erhöhung der Löhne und ein noch intensiverer Fokus auf Aufklärung und Psychoedukation sowie Ausbau der ambulanten Unterstützungsmöglichkeiten.
Heute, im Jahr 2024 ist nicht einmal mehr die hausärztliche Versorgung flächendeckend gesichert. Ich kann nicht zu einem Facharzt, den ich dringend aufsuchen muss, weil ich keinen Hausarzt (mehr) habe, der mir die Überweisung dorthin ausstellt. Mein Hausarzt ist Ende 2023 in Rente gegangen, ohne Nachfolger, somit muss mich keine Praxis nehmen. Ich bin im März umgezogen, selbst für Zugezogene werden Wartelisten geführt, ob sie chronisch erkrankt sind, wie ich oder nicht. Ich habe keinen Hausarzt mit einem angeborenen Herzfehler, Bluthochdruck und chronischen Schmerzen. Das ist in einem Sozialstaat wie Deutschland eigentlich nicht möglich und dennoch Fakt.
Es besteht freie Arztwahl, aber es sind keine freien Plätze bei Ärzten vorhanden, aus denen gewählt werden könnte. Bei Fachärzten war das bereits bekannt, bei Hausärzten ist eine erschreckende neue Entwicklung, die die gesamte Bevölkerung betrifft.
Patientenlobby?!
Gibt es sie? Ist das Beschwerdemanagement, dass zumindest in den Einrichtungen wie Krankenhäusern existiert ausreichend? Liest überhaupt jemand die eingereichten Beschwerden? Sind Ärztekammern, Krankenkassen Ansprechpartner, wenn ich keinen Arzt finde oder einen medizinischen Übergriff zu melden habe? Das scheint alles nicht transparent, sodass nach meinem Empfinden wenige Menschen sich zur Wehr setzen.
Mein einziges Tool als Krankenschwester war es, den Patient:innen einen Beschwerdemanagement-Flyer in die Hand zu drücken. Meistens mit den Antwort-Reaktionen, die ich zuvor als Fragen gestellt habe. Als Pflegepersonal habe ich nicht die Option gehabt mich im Namen von Herrn Meyer, Frau Müller und Co zu beschweren. Wir, das Pflegepersonal, sind in meinen Augen auch keine guten Vorbilder. Die scheinbar lustigen TikTok-Videos und Reels von ausgelaugten Pflegekräften, die ihren Pflegealltag auf die Schippe nehmen, sind in meiner Welt keineswegs lustig. Sie spiegeln genau das wider, was ich jahrelang erlebt habe und müssten einen Aufschrei in der Bevölkerung und Politik auslösen! Ich möchte in diesen Zuständen, die nicht neu sind, nicht pflegebedürftiger oder kranker werden!
Das ist nicht lustig, wenn x Pflegekräfte und zum Teil auch Ärzte über die desolaten Zustände Videos drehen um mit „schwarzem Humor“ den Notstand aushalten zu können. Das ist ein Armutszeugnis für das Gesundheitssystem und in meiner Welt nicht human.
Wer schützt Patient:innen? Vor medizinischen Übergriffen? Wenn inzwischen jeder, der überhaupt noch eine:n Hausarzt:Hausärztin hat, dankbar und glücklich sein muss, überhaupt behandelt zu werden?
Und wie erkennt der Laie einen medizinischen Übergriff überhaupt?
Wird das Einholen/Einfordern einer zweiten Meinung abgelehnt oder mit Angstschüren geahndet, z. B. wenn Sie noch mehr Zeit vergehen lassen wollen (und das ist wiederum ein Fehler im System, dass soviel kostbare Zeit vergehen muss!)
Invasive Eingriffe als notwendig und ohne Alternative dargestellt werden, Zeit als Angst-Faktor wie bei Zweitmeinung
Weiterführende Untersuchung ohne Begründung, selbst auf Nachfrage nicht, „das ist der Standard“ – Ja, warum, ist das im Standard enthalten und warum brauche ICH diese Untersuchung wirklich?
Einfach Infusionen anhängen und ohne Erklärung, auch auf Nachfrage nicht, das Zimmer verlassen.
Die Liste lässt sich beliebig erweitern und trägt nicht zu einem gesundheitsfördernden Umgang mit sich selbst und diesem System bei.
Das ist DEIN KÖRPER, du darfst fragen, was in deine Venen läuft, was du schlucken sollst und warum deine Haut bei einer Operation aufgeschnitten werden soll und warum!
Ein offener Umgang allein reicht nicht!
Das ist meine Meinung. Gerade heute, am Veröffentlichungstag, erlebe ich wieder einen Übergriff. Einen zeitlichen Übergriff.
Ich habe einen MRT für die EMAH (Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern) am UKE in Hamburg bekommen. Und auch nur binnen 2 Wochen, weil mein EMAH-(Kinderkardiologe)-Arzt sich direkt mit dem UKE in Verbindung gesetzt hat. Mir wurde ein Termin in weniger als 3 Wochen mitgeteilt und ich habe den Auftrag eine Blutentnahme bis dahin vornehmen zu lassen. Ich habe aber keinen Hausarzt, mein EMAH-Arzt in Urlaub bis zum 26.08., ich kann somit auch keine Überweisung holen. Am Telefon wurde nur entgegnet, das sei jetzt mein Termin und ich habe dafür zu sorgen, dass ich das zum Termin vorlegen kann. Ich frage mich WIE? Und erhalte keinen späteren Termin. Denn am 17. September habe ich einen endlich, endlich, endlich einen neuen Hausarzt. Vielleicht kann auch mein EMAH-Arzt eine Blutentnahme machen, das wäre ja ab dem 26.08. möglich. Aber nein, ich habe nun 13 Werktage Zeit, die BE (Blutentnahme) bzw. das Ergebnis brauche ich in der Zeit, zu erhalten. Das ist für mich auch ein Übergriff, diese Situation stresst mich massiv. Ich muss arbeiten und kann nicht täglich am Telefon hängen, alle Hausärzte abtelefonieren – was ich ja sogar durch habe und der früheste Termin ist der 17. September. Ich habe mich dort auf die Warteliste setzen lassen, sollte ein früherer frei werden. Ich kann nicht zaubern, auch wenn die Dame am Telefon das heute zu erwarten schien.
Meine Schmerzen verstärken sich bei solch einem Stress. Ich kann mir keinen anderen Hausarzt aus den Rippen schneiden. Ich hätte längst einen, nachdem meiner Ende 2023 in Rente gegangen ist – ohne Nachfolger – wenn es welche gäbe.
Über meine Zeit zu bestimmten, mit einer scheinbar nicht mal lösbaren Aufgabe, ist ein Übergriff in meiner Privatsphäre, anstatt mir einfach einen späteren Termin zu geben. Selbst mit vorhandenem Hausarzt, kann ich dort auch nicht einfach bestimmen, sofort einen Termin zu bekommen.
Ein Teufelskreis, der nur mit einem nachhaltig reformierten Gesundheitssystem durchbrochen werden kann und dem mündigen Patienten. Der/die klar und offen kommunizieren und auf Humanität bestehen, was in der Medizin selbstverständlich sein sollte.
Fortsetzung folgt
…. zu Ende August.
#tabutalkblogparade
2 Antworten
Liebe Andrea, vielen lieben Dank dir für diesen Beitrag zu meiner Blogparade. Das ist echt ein wichtiges Thema und ich wünsche mir sehr, dass immer mehr Menschen lernen, für ihre Bedürfnisse und Rechte einzustehen. Auch im medizinischen Setting. Ich selbst habe in den letzten Jahren da eine große Entwicklung durchgemacht und bin sehr froh, mit der Geburt meines Kindes eine durch und durch positive Erfahrung gemacht zu haben. Es gibt als – auf jeden Fall in Österreich – eine Entwicklung diesbezüglich.
Alles Liebe, Generose